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Der Mut zur Wahrheit ist der neue Ernst des Lebens

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Über die Radikalität von Charlie Hebdo, die Unausweichlichkeit blasphemischer Äußerungen und die Zumutungen der freimütigen Rede.

Würden Sie für eine Idee sterben? So lautete bis in die 1980er Jahre hinein, in denen Stéphane Charbonnier sein Abitur ablegte, eine Examensfrage in Philosophie. Die Anzüglichkeit der Frage, den Flirt mit der Unbedingtheit des jugendlichen Sturm und Drang verwechselten die Lehrer von damals mit Ernst – oder hielten es für ein brillantes intellektuelles Glasperlenspiel. Keiner von ihnen sah seine Schüler blutüberströmt unter den Zeichentischen der Redaktion einer Satirezeitschrift liegen. Die französische Journalistin und Autorin Pascale Hugues, die sich anlässlich der Morde an den Illustratoren von Charlie Hebdo an die naiv-infame Abiturfrage erinnert, verschweigt ihre Antwort nicht: „Natürlich schrieben wir in Großbuchstaben ‘OUI!’ auf das weiße Examenspapier. Wir waren 18 Jahre alt, wir hatten große Ideale im Kopf, ohne Risiko. Uns drohte doch kein Verlust. Vor allem nicht der des Lebens, in das wir mit beiden Beinen voran springen wollten.“

Sich an eine Wahrheit zu binden, sich mit Leib und mit Seele in ihren Dienst zu stellen und sehenden Auges für sie zu sterben, ist in westlichen Gesellschaften längst keine Frage des kollektiven Anstandes (mit Hamburger ‘s-t’) mehr, wie noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es ist eine höchst seltene und suspekte Sache geworden, ein Angriff auf die herrschende symbolische Ordnung, sprich: auf das ungeschriebene Gesetz, das in jeder Kultur das Erlaubte vom Verbotenen trennt und diesen Unterschied mit Klauen verteidigt.

Radikal ist, was an die „Nieren“ der jeweils dominanten Kultur geht, das, was sie nicht verstehen kann. Radikal ist, wer den Unterschied zwischen Theorie und Praxis nicht länger erträgt und anfängt, die von Aristoteles begründete, nötige Distanz zwischen beiden Größen einzureißen. Das klingt harmlos, ist es aber nicht. Denn die Lücke wird nicht an einem austauschbaren Beispiel, sondern unter Einsatz und Preisgabe des eigenen Körpers ein für alle Mal geschlossen. Diese radikale Selbstermächtigung (unter Verlust der eigenen Integrität und Sozialität) wirkt übermenschlich – und bindet in dem Maße Nachahmer nach sich, wie sie ihre Betrachter_innen polarisiert und spaltet: in Gläubige und Ungläubige.

Wer sich solchermaßen gegen die Theorie-Praxis-Lücke, gegen die symbolische Ordnung und gegen die eigenen Selbsterhaltungsinteressen wendet, ist damit nur noch einen Wimpernschlag vom Extremisten entfernt. So kommt es, dass der scheinbar komfortable zivilisatorische Grat, der zwischen dem Sterben und dem Töten für eine Idee verlief, seit den Attentaten von Paris schmaler geworden ist. Die existentielle Bindung an eine Wahrheit, die für mindestens vier der Opfer wie für zwei der Täter von Paris gleichermaßen gilt, macht die Sache so kompliziert.

Es ist wohl kein Versehen, dass der ermordete Chefredakteur von Charlie Hebdo der deutschen Öffentlichkeit von einer seriösen Zeitung wie der Süddeutschen als „aufrecht, furchtlos, radikal“ präsentiert wird. Als Beweis dient ein Satz gegenüber Le Monde, der – prophetisch genug – schon 2012 gefallen ist: „Ich habe keine Kinder, keine Frau, kein Auto, keine Schulden. Das klingt jetzt sicherlich ein bisschen schwülstig, aber ich sterbe lieber aufrecht, als auf Knien zu leben.“ Ich bin nicht erpressbar, lautet die Ansage – und wenn ihr mich tötet, werde ich Euch mit meinem Tod nicht gedient haben.

So sieht es aus – und so ist es gekommen. Vier Tote in einem jüdischen Supermarkt allein hätten vermutlich nicht drei Millionen Franzosen auf die Straße getrieben. Es ist im buchstäblichen Sinne der nun überall in Übergröße hochgehaltene Bleistift, der die Unschuld des Zeichners und die Ungeheuerlichkeit der gegen ihn gerichteten Kalaschnikow verbürgt. Traurig genug, dass sich die westliche Öffentlichkeit wegen notorischer Todesdrohungen längst mit dem Polizeischutz für Karikaturisten abgefunden hat. Nachbarn sollen den schwerbewaffneten Attentätern übrigens arglos den Weg zur unausgeschilderten Redaktion gewiesen haben, das Trugbild einer Eliteeinheit zum Schutz vor Anschlägen im Kopf.

Am Ende des Tages ist es die eklatante Ungleichheit der „Waffenwahl“, die später den emotionalen Ausschlag für die millionenfach aufbrandende Empörung gibt und vermutlich erst im zweiten Atemzug die Verteidigung der Pressefreiheit.

Was ist von der verblüffenden Erklärung der Attentäter inmitten des Blutbads zu halten, Frauen und Zivilisten töteten sie nicht, das verbiete ihnen der Islam? Starb die Psychoanalytikerin Elsa Cayat „aus Versehen“? Macht der Bleistift nur aus einem männlichen Illustrator einen Krieger zur Verteidigung des christlichen Abendlandes? Wie werden sich die überlebenden Frauen aus dem Redaktionsteam fühlen – für unwürdig erklärt, für ihre Ideen zu sterben resp. für unfähig, eine vollgültige Blasphemie wider den Propheten zu vollziehen?

Blasphemie – was ist das? Angemaßte Macht über das Heiligste? Doch wie kann ein Mensch durch ein abschätziges Wort oder einen überzeichneten Gesichtszug überhaupt höchste symbolische Macht über seinen oder den Gott anderer erringen? Ich gestehe, ich war als 16-jährige Protestantin auf einer Ursulinenschule erstaunt zu erfahren, dass es auch im Christentum (für Protestanten wie Katholiken) eine „Todsünde“ gebe, die durch keine Beichte gesühnt und keinen Ablass ungeschehen gemacht werden könne: die Lästerung wider den Heiligen Geist. Dessen Bedeutung wurde uns anlässlich dreier Besinnungstage im Kloster Himmerod von einem Pater erläutert, der dazu nachts mit uns in ein Schlammbad stieg. Demnach walte der Heilige Geist überall, wo mehr als zwei … und sei daher potentiell immer zu beleidigen … besonders in der Gemeinschaft giggelnder Mädchen, die sich mit ihrem Pater kreatürlich im Dreck suhlten, führte ich den Satz laut zu Ende. Das Ganze war so skurril, dass ich reflexhaft zu lästern anfing, ich konnte nicht anders. Jahrelange Scham darüber folgte auf den Fuß. Spät las ich Luther, um mich von der göttlichen Gnade zu überzeugen, die durch keine menschliche Handlung – weder im Guten wie im Schlechten – herbeigezwungen werden kann.

Was ich damit sagen will? Blasphemie ist in allen Religionen eine empfindliche Kränkung, da ein Angriff auf die Gottesfurcht; überdies in wenigstens zwei der drei monotheistischen Bekenntnissen eine überaus ernste Angelegenheit, weil sie unglaublich leicht zu begehen ist. Eine einfache Gedankenlosigkeit, ein unkonzentrierter Moment, ein unwillkürliches Lachen genügt und es ist um das Seelenheil geschehen! Zack! Wumm! Aus die Maus! Im Judentum genügt hingegen eine bestimmte Personenzahl, um Gottesdienst zu feiern, davon müssen ausdrücklich gar nicht alle gläubig sein. Der Abweichler oder Zweifler gehört mit zur Gemeinschaft dazu, statt ihr zu schaden. Wie sympathisch! Sobald aber das Verhältnis von Gläubigen zu Gott durch unfehlbare Päpste, todernste Propheten oder gar einen ubiquitär kontrollierenden Heiligen Geist reguliert wird, der mühelos lästerliche Gedanken zu lesen vermag, wird die Blasphemie zu einer schier unausweichlichen Sache. Sie wird zum Sinnbild für den ganz alltäglichen Abfall von Gott qua Zerstreutheit, Abwesenheit, Gedankenlosigkeit. Sie verbürgt, mit einem Wort, unsere Menschlichkeit.

Das „Recht auf Blasphemie“, das die überlebenden Redakteur_innen eine Woche nach dem Massaker mit den Mitteln des Comics schwarz auf grünem Grund einklagen, ist in diesem Sinne das Allermenschlichste und so kurz nach den Attentaten unglaublich stark! Alles ist verziehen steht wie ein Gottesurteil über einem bedröppelt dreinschauenden Moslem (dit Mohammed), dem angesichts der erdrückenden Sachlage nichts anderes übrigbleibt als tapfer sein „Je suis Charlie“-Schild hochzuhalten.

###© Reuters 

Na ja, halbhoch zu halten. Das Verzeihen auf der Seite der angeblichen Blasphemisten – es zeigt umgekehrt wie haltlos verloren ein Mensch ist, der sich das Menschlichste selbst nicht verzeihen kann. Zum Glück kann Gottes Ehre so wenig verloren gehen, wie sie von Menschen gerächt werden kann. Nur dem Menschen kann die Menschlichkeit abhanden kommen, wenn er aufhört, zu lachen, zu lästern, zu zweifeln, zu widersprechen. Wenn er sich all das verbietet, was ihn von (s)einem Gott unterscheidet.

Bleibt zuletzt die Frage: Gehört Stéphane Charbonnier ins Panthéon? Ist er nicht für Frankreich gestorben, für die unveräußerlichen Werte der Grande Nation? Dieser Vorschlag stammt von Jeannette Bougrab, der ehemaligen Jugendbeauftragten unter Sarkozy. Obgleich die Familie des Toten sie für eine Aufschneiderin hält, reklamiert Bougrab für sich, zuletzt die Frau an Charbs Seite gewesen zu sein, die es theoretisch gar nicht geben dürfte.

Der Satiriker im Panthéon erscheint wie eine Figur aus Michel Foucaults letzter Vorlesung am Collège de France aus dem Frühjahr 1984. Sie erschien 2009 unter dem Titel „Le courage de la vérité“, 2010 als „Der Mut zur Wahrheit“ auf deutsch. Neben dem Fachmann (der sagt, was er weiß), dem Weisen (der deshalb meistens schweigt) und dem Propheten (dessen Wahrheiten dunkel und damit Auslegungssache bleiben) geht es dort um eine vierte Form des Wahrredens, um den zynischen Schwätzer, den bedenkenlosen Alles-Sager, den Nie-das-Maul-Halter, also nicht zuletzt: um den Karikaturisten, der zeichnet, wie ihm der Bleistift gerade gespitzt ist.

Die griechische parrhesia übersetzt man wohl am besten mit der freimütigen Rede im politischen Raum. Während antike Verächter den Begriff als ‘Beliebiges sagen’, sprich: als Herumschwätzen auslegen, loben seine Befürworter das riskante ‘Wahrreden’, ohne Rückhalt, ohne Furcht. Parrhesia sei eine Rede mit äußerstem Risiko einen anderen zu verletzen, verbunden mit der Gefahr einer gewalttätigen Reaktion. Foucaults Fazit: „Die parrhesia setzt also nicht nur die etablierte Beziehung zwischen dem Sprechen und dem, an den sich die Wahrheit richtet, aufs Spiel, sondern sie riskiert sogar die Existenz des Sprechenden, zumindest wenn sein Gesprächspartner Macht über ihn hat und er die Wahrheit, die man ihm sagt, nicht ertragen kann.“

Wir alle wissen, dass am 7. Januar 2015 in der Redaktion von Charlie-Hebdo keine Gesprächspartner aufeinandertrafen. Klar ist auch, dass nicht jeder über Charlies allwöchentlichen Sexismus, seine Vulgaritäten und Polemiken gegenüber allen Religionen lachen kann. Doch die produktive Differenz zwischen Theorie und Praxis, Denken und Handeln, die der Blasphemievorwurf nicht wahrhaben will und nicht ertragen kann, gehört zum Kern der Meinungsfreiheit. Es geht um die Zumutungen der parrhesia im vollumfänglichen Sinne: geschwätzig und dumm, wahrredend und riskant, belanglos oder tödlich genau zu sein. „Ich verteidige dein Recht, dummen Scheiß zu sagen,“ so fasst der britische Journalist Eliot Higgens die Lage zusammen, „aber es bleibt dummer Scheiß.“

Wie es aussieht, wird die schlichte Freimütigkeit der Rede dreißig Jahre nach Foucaults Tod plötzlich zum „Mut zur Wahrheit“ – und gleichbedeutend mit dem Ernst des Lebens.

von Mirjam Schaub erschienen in Ich. Heute. 10 vor 8. ein Blog von FAZ.NET.


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